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Dieses schöne Unbehagen.

Hier jetzt auch noch.

Charlotte Roche soll auf der Buchmesse omnipräsent gewesen sein, mir ist sie leider nicht begegnet. Auch das Rundum-Sorglos-Paket der SPIEGEL-Berichterstattung zu ihrem neuen Buch habe ich nicht verfolgt. Schaulustige, die ich bin, las ich allerdings den „Hallo Charlotte“-Brief von Alice Schwarzer. Drauf  wurde ich dann auch aufs Buch neugierig. Zu dem wurde nun schon alles vorwärts und rückwärts diskutiert – ich bin spät dran. In Unkenntnis der meisten Feuilleton-Artikel sind meine Gedanken aber noch einigermaßen unverstellt. „Feuchtgebiete“ fand ich gar nicht so schlecht: Literarisch nur lala, aber diese Wonne, mit der Roche den Finger genau dahin legt, wo es eklig wird und alle „Iieh“ und „Äähh“ schreien. Trotzdem habe ich mich damals gewundert (allerdings nur ein bißchen), dass vor allem über Analrasur, Avocadokern-Dildos und Menstruationsblut geschrieben wurde, während es doch eigentlich um eine junge Frau geht, die über die Trennung der Eltern und einen traumatischen Selbstmordversuch der Mutter nicht hinwegkommt.

Dieser Selbstmordversuch, bei dem die Mutter auch den kleineren Bruder gleich mit zu töten versucht, wird auch in „Schoßgebete“ erwähnt – nur einmal, unauffällig reingeschmuggelt, geht es doch um noch viel katastrophalere Traumata. Die liegen als derartig dunkler Schatten über dem Buch, dass ich mich schon frage, wie Frau Schwarzer zu ihrem Brieflein kommt. Diese Ebene des Buches, die Beschreibung des Unfalltodes der drei jüngeren Brüder, das Elend, in das er eine Familie stürzt, der fast nicht auszuhaltende Wahnsinn einer solchen Erfahrung – scheint an Schwarzer recht vorbeizugehen. Davon abgesehen, dass sie keinerlei Unterschied zwischen Romanfigur und Autorin macht, ist auch bemerkenswert, was sie alles auslässt. Und was sie so rauspickt – lauter Schwarzer-Köder: Bordellbesuch! Brasilianische Prostituierte! Heizdeckensex! Übermütter! Ach ja.

„Schoßgebete“ funktioniert im Prinzip ähnlich wie „Feuchtgebiete“: es gibt eine sehr persönliche Erzählebene, und eine, die eher Allgemeines, Provokatives verhandelt. Auf mehr oder weniger brachiale Weise werden bei Roche Vorstellungen und Muster in Frage gestellt – sei es nun zu Körpergefühlen und Hygiene (in Feuchtgebiete) oder zu, so hab ich es jedenfalls gelesen, Familienleben, Monogamie und ehelichem Sex, wie und ob dies alles funktioniert. Das formt eine Art provokative Kruste, die gegen Ende zwar etwas redundant und langatmig ist, aber mit netten Spitzen gespickt. („Alice Schwarzer sitzt immer beim Sex zwischen mir und meinem Mann und flüstert mir ins Ohr: ‚Ja, Elizabeth, das denkst du nur, dass du jetzt einen vaginalen Orgasmus hast, das bildest du dir nur ein, um dich deinem Mann und seinem Machtschwanz zu unterwerfen.'“ Find ich ja ganz lustig.) Wie Frau S. nun aber Angst haben kann, dass Roches Leserinnen dies als „Rezept“ verstehen könnten, bleibt ein Rätsel, ist doch die Überspitzung und Ironie offensichtlich. Ebenso wie die unter dieser Kruste liegende Geschichte, die traurig, traumatisch, fürchterlich ist. Die jeden Gedanken bestimmt, den die Romanfigur Elizabeth zur Erhaltung (und Zerstörung) ihrer Selbst und ihrer Familie hat. Hierin finde ich die stärksten Passagen des Buches, die zu lesen bisweilen weh tut (dazu und auch zum Thema Tabubruch in Schoßgebete interessant: der Text von Kadda im Freitag). Wie sie präzise bestimmte Gefühle seziert mag jahrelanger Therapieerfahrung geschuldet sein – nachvollziehen kann sie vermutlich auch, wer deutlich weniger katastrophale Schicksalsschläge kennengelernt hat.

„Immer in einer Sonderstellung. Wie eine Heilige. Alle sollen denken: Ich beiße mich durch. Ich lasse mich nicht unterkriegen. Ich gebe nicht auf, und dafür werde ich bewundert. Es ist auch wirklich schön, bis heute, so wei ein Überwesen bemitleidet zu werden, sodass ich mich auch schon ein bisschen freue, irgendwann mein Kind zu betrauern und meinen Mann.“

In Schicksalsschlägen und schmerzhaften Veränderungen kann eben auch ein Moment der Erhebung liegen: Gezeichnet, herausgehoben zu sein. Es überstanden und ausgehalten zu haben. Traumatisiert zu sein, vielleicht, aber eben auch besonders. Ein schambehaftetes, paradoxes, verbotenes Gefühl: die Sucht nach Mitleid. Ein schönes Gefühl inmitten von schlimmen. Wie Roche dies beschreibt, ist faszinierend und erschütterend: wie ein Blick in den Abgrund.

Ob manche Leser_innen diesen Blick nicht wagen wollen oder keine solchen Abgründe besitzen (bzw. dies meinen), darüber zu spekulieren ist müßig. Ich hoffe jedenfalls, Charlotte Roche steckt auch in Zukunft ihre Finger in die richtig dunklen Stellen. Sie vermag so ein grundsätzliches Unbehagen auszulösen. Das gefällt mir schon allein, weil sie damit Kritiker_innen aus der Reserve lockt, die versuchen, die Unbehaglichkeit mit Herablassung herunterzuspielen und zu bändigen (und dabei selbst ganz schön durchsichtig werden).